Forderung nach einer Demokratisierung des Alter(n)s

Gastbeitrag für den Tagesspiegel, erschienen 11.05.2022, von Helmut Kneppe, Vorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe Wilhelmine-Lübke-Stiftung e. V.

Wenn man fragt, wie selbstbestimmt man ist, fallen den meisten Menschen Verpflichtungen und Erwartungen ein – etwa der Arbeitsvertrag, Verkehrsregeln, Steuererklärung etc. Kurz, alltägliche Einflüsse, die je nach Lebenssituation variieren können. Das Alter spielt bei diesen Überlegungen eher selten eine Rolle. Wie stellen wir uns unser Alter vor? Am liebsten gar nicht. Wenn, dann eher mit einem pauschalen Ausblick: „Wenn ich erst in Rente bin, dann…“ Doch wie sieht es im Alter aus mit den Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten – etwa, wenn man hilfsbedürftig ist oder in eine Einrichtung wechselt?

Ruhestand als Erwartungsland

Der Ruhestand – wo alles nachgeholt wird, die Freiheit quasi grenzenlos ist? Und wie sieht es aus mit der Selbst- und Mitbestimmung jenseits eines Abenteuerlandes Ruhestand? Wie sieht es mit den Möglichkeiten aus, mitzugestalten, mitzuentscheiden, wenn es um Grundfragen geht: Wie will ich im Alter leben, wohnen, teilhaben – auch dann, wenn sich Hilfebedarfe einstellen? Über die Lebensumstände in unserem Alter sollten wir so früh wie möglich mitentscheiden. Wie soll mein Wohnumfeld gestaltet sein, die Versorgung ermöglicht werden, wer soll mich im Fall der Fälle wie betreuen, wie soll meine gesellschaftliche, kulturelle Teilhabe gesichert werden? Und: Wie sollen meine Beteiligungs-Möglichkeiten gestaltet sein? In beide Richtungen: Was will und kann ich – z. B. ehrenamtlich – einbringen, und was möchte ich, dass für mich getan wird? Und wie werden meine Mitbestimmungsrechte gewährleistet?

Plädoyer für die Demokratisierung des Alter(n)s

Es geht um einen Auftrag an unser Gemeinwesen, das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung sowie das Recht auf Teilhabe in allen Lebensphasen und Lebenslagen zu sichern. Hierzu gehört nicht nur, inklusive Strukturen zu schaffen und Menschen sozial einzubinden, sondern ihnen auch in allen Lebenslagen Mitentscheidung und Mitgestaltung zu ermöglichen. Um dies zu gewährleisten, fordert das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) eine Demokratisierung des Alter(n)s. Das KDA will mit der Initiative „Leben im Alter(n) 6.0“ den notwendigen gesellschaftspolitischen Diskurs anstoßen und die Rolle, Integration und Akzeptanz alternder Menschen in und für unsere Gesellschaft weiterentwickeln – ganz im Sinne Wilhelmine Lübkes.

Die Ehefrau des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke – sie wurde am 9. Mai 1885 im Sauerland geboren, studierte Philosophie, Mathematik und Germanistik in Münster und arbeitete bis zu ihrer Heirat als Gymnasiallehrerin – setzte sich für die Gestaltung eines würdevollen Alters ein. Die Heime passten Anfang der 60er Jahre wenig zum Auftrag des Grundgesetzes, die Würde des Menschen zu schützen (Artikel 1 GG). Mehr noch: Wilhelmine Lübke war es wichtig, das Bild der älteren Genration als vulnerable Gruppe zu ändern.

Rasch sollten Möglichkeiten geschaffen werden, die ein selbstbestimmtes Leben im eigenen Zuhause   möglichst lange zuließen, die eine Teilhabe ermöglichten – auch für Menschen mit Hilfebedarfen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann gründete sie 1962 das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), das als Wilhelmine-Lübke-Stiftung zu ihrem Lebenswerk wurde. Wichtig waren ihr die praktische Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Einbeziehung der gesamten Gesellschaft. Auch von der älteren Generation erwartete sie Engagement und Beteiligung.

Beispiele praktischer Umsetzung waren Essen auf Rädern oder die Grundlagen der Tagespflege und vor allem das stetige Neudenken von Einrichtungen in immer weiter entwickelten Wohnumfeld-Generationen.

Leben im Alter(n) 6.0

Das KDA blickt heute, zum 60-jährigen Bestehen, in die Zukunft und hat mit „Wohnen 6.0 – mehr Demokratie in der (institutionellen) Langzeitpflege wagen“ nicht nur eine neue Wohngeneration für Einrichtungen vorgelegt. Das Strategiepapier gibt darüber hinaus einen Impuls zum Neudenken des Alterns unserer Gesellschaft und bildet den Auftakt zur Initiative „Leben im Alter(n) 6.0“. Ein entscheidender Aspekt ist die Beteiligung aller, die Demokratisierung des Alters und des Alterns. Es werden konkrete Lösungs- und Gestaltungsvorschläge für ein gelingendes Altern in Würde angeboten. Am konkreten Beispiel der Langzeitpflege wird praktisch nachgewiesen, dass und wie demokratische und gesellschaftliche Teilhabe auch unter schwierigen Umständen möglich ist.

Wollen wir den vielfältigen Funktionsstörungen in der Sorge begegnen, müssen wir die am Sorgegeschehen Beteiligten mehr fragen, wie der Weg zukünftig sein soll. Gelingende Sorgebeziehungen brauchen daher nicht nur bessere Rahmenbedingungen für Sorgearbeit, insbesondere in der Pflege, sondern es ist ebenso wichtig, den direkten Einfluss auf die eigenen Sorgebeziehungen zu verbessern. Dazu müssen Beteiligungsstrukturen in Einrichtungen geschaffen werden. In Pflegewohnsettings, die den Bedarfen aller entsprechen sollen, kann die jeweils gewünschte Balance von Freiheit und Sicherheit von allen gemeinsam demokratisch ausgehandelt werden.

Beteiligungsstrukturen braucht es auch für die Gesellschaft insgesamt auf verschiedenen Ebenen, etwa in Sorgeparlamenten in Gemeinden.

Gesamtgesellschaftlicher Auftrag

Heute ist Alter vielfältig. Doch geblieben ist der Auftrag, das Alter als gemeinsamen Auftrag zu verstehen, alle einzubinden. „Wir müssen die Vielfalt des Alters sehen, um den Bedürfnissen und Wünschen der älteren Menschen gerecht werden zu können. Gelingen kann das nur, wenn wir das als gemeinsame Aufgabe sehen: Eine, die uns alle angeht“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Schirmherr des KDA, im November 2021.  

Dazu braucht es eine gesamtgesellschaftliche Diskussion und Willensbildung, die Demokratisierung des Alter(n)s. Auch hier ein Zitat des Bundespräsidenten, er sagte anlässlich seiner Wiederwahl: „Vertrauen in Demokratie ist doch am Ende nichts anderes als Vertrauen in uns selbst.“ Alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus. „Das ist das Versprechen unserer Verfassung an uns Bürger. Aber darin liegt auch ein Versprechen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern: Zieh dich nicht zurück, sondern übernimm Verantwortung. Das ist die doppelte Natur der Demokratie: Sie ist Versprechen und Erwartung zugleich.“
Gemeinsam lässt sich ein gutes Miteinander und ein würdevolles Ruhestandsland gestalten.

Der Beitrag im Tagesspiegel

Mehr zur Demokratisierungs-Initiative des Kuratoriums Deutsche Altershilfe

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