Die andere Sicht aufs Alter

Interview mit René Schwerdtel, Weltreisender und Fotograf

Er habe „Hunger auf echte Geschichten“ gehabt, begründet Rene´Schwerdtel seinen Sinneswandel. Als Gesellschafts-Fotograf rückte er mehr als 30 Jahre lang Models und Prominente ins richtige Licht, bevor er die schönen Seiten des Alters entdeckte – und rund um die Welt reiste, um Bilder und Geschichten älterer und hochaltriger Menschen einzufangen. Bilder seiner Ausstellung waren unlängst beim Festakt anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA) in Berlin zu sehen. Wir zeigen hier einige seine Werke. Auch die Fotos auf der Homepage des KDA sind von René Schwerdtel. Im Interview erklärt der Künstler seine Sicht auf das Alter, und warum ein Sichtwechsel notwendig sei, er berichtet von Erfahrungen und vom Umgang mit dem Alter in anderen Ländern, erzählt von beeindruckenden Begegnungen, und wie er sich sein eigenes Alter vorstellt. Herr Schwerdtel, Sie haben sich auf die Darstellung des Alters spezialisiert, fotografieren das Leben in Senioreneinrichtungen oder portraitieren Hundertjährige. Ursprünglich sind Sie als Mode- und Gesellschafts-Fotograf für viele Unternehmen und Magazine tätig und berichten vor allem aus der Welt der Schönen und Prominenten, des Glitzers und des Glamours. Wie kam es zu dem Sinneswandel?

Ich bin älter geworden (lacht).  Niemand hebt sich einen Modeprospekt oder einen Katalog auf. Das wandert alles ins Altpapier. Nach mehr als 30 Jahren dauernder Reisetätigkeit und den immer selben oberflächlichen Geschichten in der Branche, habe ich Hunger auf echte Geschichten und will in der Gesellschaft gerne auch aktiv etwas bewegen. Als ich vor mehr als 15 Jahren von einem guten Freund gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, auch Senior*innen in Szene zu setzen, habe ich sofort ja gesagt. In der Darstellung des Alters und auch der Pflege haben wir in Europa und besonders in Deutschland ein großes Manko. In den Medien werden entweder düstere, deprimierende Fotos zum Thema gezeigt, oder eben übertrieben lebensfrohe „junge Alte“, also Models, die auf alt getrimmt sind, so wie in der Arzneimittelwerbung. Das ist beides fake. Und es ist langweilt!  Meine selbst gestellte Aufgabe ist es, das Alter und die Pflege ehrlich und mit echten Menschen darzustellen und das Thema auf emotionale Art und Weise in die Öffentlichkeit zu bringen.

Wie reagieren die Seniorinnen und Senioren und die Mitarbeitenden von Pflegeeinrichtungen, wenn sie von Ihnen fotografiert und interviewt werden?

Die erste Reaktion ist meistens „Warum so eine alte Person wie ich? Haben Sie keine junge, hübsche Person gefunden?“ In einem kurzen Gespräch baue ich dann Vertrauen auf und provoziere meine Fotomodelle mit Fragen nach ihrer Jugend, ihren Abenteuern usw. Dann sehen die anderen Personen im Raum, dass wir viel Spaß haben, und plötzlich wollen alle fotografiert werden. Kürzlich ist es sogar vorgekommen, dass ich ein Pflegeheim nochmals besuchen sollte, da die Bewohner und Mitarbeiter*innen, die sich nicht fotografieren lassen wollten, ihre Entscheidung bereut haben, als die Fotos dann gerahmt in den Gängen hingen. Die Fotosession ist für viele eine Wertschätzung oder gar eine Therapie, und wenn die Fotos dann gar noch an den Wänden hängen oder in der Hauszeitung zu sehen sind, dann stärkt das das Gemeinschaftsgefühl in der Einrichtung, aber auch zu den Angehörigen ungemein. Dasselbe gilt auch für die Mitarbeiter*innen. Meistens zeige ich ja auf meinen Bildern auch die innigen Beziehungen zwischen Pflegepersonal und Pflegebedürftigen, die verbringen ja viel mehr Zeit zusammen als mit den eigenen Familien.

Die Portraits, die Sie auch beim Festakt des Kuratoriums Deutsche Altershilfe im Oktober 2022 in Berlin ausgestellt haben, zeigen Menschen, die 100 Jahre oder älter sind. Die Aufnahmen entstanden auf unterschiedlichen Kontinenten. Gibt es etwas, was all diese Menschen im Alter eint?

Ja. Meiner persönlichen Beobachtung nach handelt es sich im Allgemeinen um aktive und interessierte Menschen mit viel Humor, die allesamt nicht im Reichtum geschwommen sind. Viele hatten auch zeitweise eine sehr karge Ernährung (Kriegszeiten, Wirtschaftskrisen). Übergewichtige Hundertjährige habe ich nicht getroffen. Und viele nehmen keinerlei Medikamente. Und fast alle haben sehr lange gearbeitet. In Sardinien gibt es sogar Hundertjährige, die noch berufstätig sind.

Der bekannte kubanische Arzt Prof. Dr. Selman, mit dem ich in Kuba fast 100 Hundertjährige besucht habe, hat in seinem Buch „Vivir 120 años“ drei Regeln zur Langlebigkeit aufgestellt:

  1. Du sollst NICHT in Rente gehen.
  2. Soziales und kulturelles Interesse (vom Gesangverein bis zum Spieleabend).
  3. Keinen langen und großen Streit in der Familie hochkochen lassen.

In Okinawa/Japan habe ich mit Prof. Makoto Suzuki zusammengearbeitet, er legt Wert auf Ikigai. Das würde ich zum Teil mit Leidenschaft oder Berufung übersetzen. Man muss etwas im Alter haben, wofür man gerne früh aufsteht, und man muss fühlen, dass man „gebraucht“ wird. Egal ob Enkel, Wanderfreunde, Modelleisenbahn – eine Aufgabe muss sein.

Was fasziniert Sie am meisten, wenn die Portraitierten ihre Geschichten erzählen?

Die Vielfalt der Geschichten und Erfahrungen. Und der Wortwitz der Senioren. Die nehmen kein Blatt vor den Mund, sie haben ja kein Image mehr aufrechtzuerhalten. Die sagen frank und frei ihre ehrliche Meinung! Vom Chefdozenten der DDR Militärakademie bis hin zum einfachen Landarbeiter in Costa Rica, der noch mit 104 Gedichte schreibt, um die Damenwelt zu verführen – das sind alles Berichte, Schicksale und Stories aus erster Hand. Ich lerne unheimlich viel von diesen Zeitzeugen, und ihre durchweg positive Lebenseinstellung kann uns allen als Beispiel dienen. Es wäre schade, wenn dieser Erfahrungsschatz verloren gehen würde.

Was denken Sie, woran liegt es, dass wir das Alter hier, bei uns in Deutschland, verdrängen, es vielleicht weniger wertschätzen als andere Kulturen?

Individualismus, „Grösser, weiter, schneller“-Mentalität, Verlust der Großfamilien, Medien, fehlende Bildung, Werbung – da läuft vieles falsch und zwar nicht erst seit heute. Bei den Seniorinnen und Senioren gibt es so viel Lebenserfahrung und Hilfsbereitschaft – dieses Potential nutzen wir in Deutschland kaum. Aus Mangel an Kontakten wird den Alten pauschal unterstellt, sie verstünden die moderne Welt nicht. Dem ist aber nicht so. In anderen Ländern funktioniert der Zusammenhalt deutlich besser, angefangen bei unseren Nachbarn in Frankreich und Italien, aber auch in den Niederlanden, Skandinavien und in Osteuropa.

Was ist Ihr Eindruck von Pflegeeinrichtungen in anderen Kontinenten, z.B. in Japan?

Bei meinen Besuchen in japanischen Pflegeheimen habe ich extreme Unterschiede zu Deutschland gesehen. In einer Einrichtung in Yokohama dürfen die Mitarbeiter*innen ausdrücklich ihre Kinder nach Kindergarten und Schule ins Heim holen. Da standen überall Schulranzen und Pantoffeln rum, Senioren machten zusammen mit den Kindern Hausaufgaben oder Kalligraphie. Draußen spielte ein über neunzigjähriger Mann mit Kindern Fangen. Auf meine Frage, ob das nicht gefährlich sei, sagt der Einrichtungsleiter lapidar „dann fällt er halt“. In Deutschland aufgrund der rigiden Haftungsbestimmungen undenkbar. Die Bewohner sind gehalten, aktiv mitzuarbeiten: Tee kochen, abspülen, Kartoffeln schälen, Wäsche falten. Und alle Gemeinschaftsräume waren offen: „Mauern sind nicht gut für Demente.“ In einer anderen Einrichtung in Okinawa waren in den Wohngruppen Zimmer sternförmig um den jeweiligen Gemeinschaftsraum angelegt. So kommen die Bewohner direkt durch die Tür ins Gemeinschaftsleben, ohne lange Gänge gehen zu müssen. Überhaupt ist die japanische Gesellschaft deutlich weniger individualistisch als unsere, der Tag wird selbstverständlich in der Gruppe verbracht.

In Kuba und Costa Rica hingegen habe ich keine Altenheime in unserem Sinne gesehen. Hier wird die Pflege traditionell von den dort noch existierenden Großfamilien übernommen. Allerdings gibt es Altenzirkel, die unseren Tagespflege-Angeboten ähnlich sind. Während der COVID-Zeit habe ich etliche Senioren interviewt, die sehnlichst auf die Wiedereröffnung dieser Treffpunkte gewartet haben, um mit ihren Freunden gemeinsam z.B. Domino zu spielen oder zu singen.

Die Gesellschaft steht vor enormen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel, mit der Verteidigung der Demokratie gegen demokratiefeindliche, spaltende Kräfte und im Zusammenhang mit der Klimakrise: Wie kann man den Zusammenhalt der Generationen, das Miteinander Ihrer Meinung nach stärken?

Schwierig. Das geht nur durch deutlich mehr Miteinander und gegenseitiger Hilfe. Die Großfamilie von früher war eigentlich ein tolles Modell – ein Geben und Nehmen. Die junge Generation erledigt die körperlich schwere Arbeit, die ältere, nicht mehr körperlich so fitte Generation kümmert sich um Kinderbetreuung und geistige Arbeiten. Auch die Dorffeste und Begegnungen in der Nachbarschaft fehlen heute – man sieht kaum, dass Generationen zusammen tanzen – zu unterschiedlich wird der Musikgeschmack von den Medien gesteuert.

Es müssen mehr Berührungspunkte generiert werden, egal ob gemeinsame Workshops in Schulen und Ausbildung, Mehrgenerationen-Gremien, Gesprächsforen und -Wohnformen. Vielleicht kommt es auch wieder zur Untermiete von Azubis und Studenten bei älteren Ehepaaren, die die ehemaligen Kinderzimmer im Haus vermieten können?

Das KDA hat zum Mitwohnen, aber etwa auch zur Stärkung örtlicher Netzwerke und Öffnung von Senioreneinrichtungen in die Gemeinde hinein verschiedene Konzepte vorgelegt…

…Das halte ich für wichtig: Die Senioren- und Pflegeheime müssen sich nach außen zeigen und öffnen! Eine Seniorenresidenz kann auch ein kultureller Mittelpunkt im Viertel sein, mit Veranstaltungen, Workshops, Café, Kinderbetreuung etc. statt wie jetzt ein abgeschotteter Mikrokosmos. Daran arbeite ich gerade mit meinem ganzen Einsatz: Seniorenheime und Senioren in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen und Interesse für das Alter wecken. Da werden viele Chancen vertan.

Dürfen wir fragen, wie Sie sich ein lebenswertes Alter vorstellen?

(lacht). Mein Idealbild des Alters war immer das des Greises bei Asterix und Obelix, der im Band „Bei den Korsen“ mit den anderen Senioren am Dorfeingang auf der Bank sitzt und den jungen Damen nachschaut. Eine südfranzösische Kleinstadt mit angenehmem Klima und einem Boule-Platz, an dem sich die Leute zwanglos treffen, und einer Café-Terrasse zum gemeinsamen Rotwein-Trinken, das wäre schon schön. Im Moment bin ich allerdings in meinem Dorf im Siegtal auch sehr gut aufgehoben und vernetzt, und statt Boule gibt es eben Skatabende und Bayerisches Bier. Die gute Gesellschaft und Freunde sind mir wichtig.

Das Interview führte Solveig Giesecke, Pressesprecherin KDA

Informationen:

René Schwerdtel, Jahrgang 1966, ist als Werbefotograf für viele Branchen tätig. Nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann bei Bayer und einem Studium der Kunstgeschichte in Montpellier konzentrierte er sich auf sein eigentliches Berufsziel, der Fotografie. Nach vielen Jahren als weltweit tätiger Modefotograf entdeckte er die Schönheit des Alters und stellt nun sehr erfolgreich die vielfältigen Seiten des Alters und der Pflege dar. Eine auf Seniorenkommunikation spezialisierte deutsch-französische Kommunikationsagentur namens AdCTIVE ist gerade in Gründung.

www.AdCTIVE.de , www.AdCTIVE.fr , www.ReneSchwerdtel.com

Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an Solveig Giesecke, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit:
Tel.: +49 30 / 2218298 – 58, solveig.giesecke@kda.de

Bilder von René Schwerdtel – das Foto oben zeigt René Schwerdtel in Nicoya, Costa Rica