Gedankenreisen aus der Wissenschaft

 

 

Frau Prof. Dr. Ursula Lehr war dem KDA von 1974 bis zu ihrem Tod im April 2022 als engagierte Kuratorin stark verbunden. Als Gerontologin der ersten Stunde war und ist sie Pionierin und Vorbild zugleich.  
Geboren wurde Ursula Lehr am 5. Juni 1930 in Frankfurt am Main. Dort und in Bonn studierte sie nach ihrem Abitur 1949 Psychologie, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte. 1954 promovierte sie an der Universität Bonn, wo sie sich 1968 auch habilitierte. Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Köln und Bonn folgte sie dem Ruf der Universität Heidelberg auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Gerontologie. Dort gründete sie das Institut für Gerontologie und etablierte Alternsforschung als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland. Sie war von 1988 bis 1991 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. 
Studierenden gab sie 2017 im Rahmen der Woche der Demographie ein großes Interview: „Studentinnen fragen, Frau Prof. Lehr antwortet“, das uns Produzentin Lea Balkau freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.  

 

Studierende fragem - Prof. Lehr antwortet


Hier das Video zum Gespräch mit Frau Prof. Lehr: 
„Es kommt nicht drauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden“ 
Frau Prof. Dr. Ursula Lehr hat sich nachdrücklich für eine selbstverantwortliche Gestaltung des Alterns eingesetzt. In diesem Sinne sind wir ihr in großer Dankbarkeit verbunden und sehen uns als KDA verpflichtet, an diesen Aufgaben weiterzuarbeiten. 

Wie stellen wir uns unser Alter vor? Am liebsten gar nicht. Wenn, dann eher mit einem pauschalen Ausblick: „Wenn ich erst in Rente bin, dann…“ Doch wie sieht es im Alter aus mit den Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten – etwa, wenn man hilfsbedürftig ist oder in eine Einrichtung wechselt? Über die Lebensumstände in unserem Alter sollten wir so früh wie möglich mitentscheiden. Was will und kann ich – z. B. ehrenamtlich – einbringen, und was möchte ich, dass für mich getan wird?  
Es geht um einen Auftrag an unser Gemeinwesen, das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung sowie das Recht auf Teilhabe lebenslagen zu sichern. Hierzu gehört nicht nur, inklusive Strukturen zu schaffen und Menschen sozial einzubinden, sondern ihnen auch in allen Lebenslagen Mitentscheidung und Mitgestaltung zu ermöglichen. Um dies zu gewährleisten, fordert das Kuratorium Deutsche Altershilfe eine Demokratisierung des Alter(n)s. Das KDA will mit der Initiative „Leben im Alter(n) 6.0“ den gesellschafts-politischen Diskurs anstoßen und die Rolle, Integration und Akzeptanz alternder Menschen in und für unsere Gesellschaft weiterentwickeln – ganz im Sinne Wilhelmine Lübkes. 

 

Wie sieht ein gutes Leben im Alter aus – so die Frage, und wir bedanken uns herzlich bei den Teilnehmenden aus Ost-Westfalen-Lippe für ihre Antworten: 
Umfrage: Wie möchten Sie im Alter leben, was ist Ihnen wichtig?    
(Ab Min 2.40)


Mit der Vorstellung des Beitrags “Wohnen 6.0 – mehr Demokratie in der (institutionellen) Langzeitpflege“ will das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) eine gesamtgesellschaftliche Diskussion um das Leben und Wohnen im Alter(n) anregen. 

Es geht um einen Auftrag an unser Gemeinwesen, das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung sowie das Recht auf Teilhabe in allen Lebensphasen und Lebenslagen zu sichern. Hierzu gehört nicht nur, inklusive Strukturen zu schaffen und Menschen sozial einzubinden, sondern ihnen auch in allen Lebenslagen Mitentscheidung und Mitgestaltung zu ermöglichen. „Um dies zu gewährleisten, fordern wir eine ´Demokratisierung des Alter(n)s` und starten eine gesamtgesellschaftspolitische Initiative für mehr Demokratie in der Altenhilfe“, erklärt der Vorsitzende des KDA, Helmut Kneppe. Das KDA will mit der Initiative „Leben im Alter(n) 6.0“ dazu einen gesellschaftspolitischen Diskurs anstoßen und die Rolle, Integration und Akzeptanz alternder Menschen in und für unsere Gesellschaft weiterentwickeln. 

In Beiträgen wird aufgezeigt, wie dies in verschiedenen Bereichen konkret gelingen kann. Als ersten Impuls stellt das KDA eine Veröffentlichung zum Bereich des Wohnens vor: „Wohnen 6.0 – mehr Demokratie in der (institutionellen) Langzeitpflege“. In diesem ersten Beitrag wird aufgezeigt, dass mehr demokratische Beteiligung auch für die Sorge hoch vulnerabler, langzeitpflegebedürftiger Menschen gelten kann und muss. „Wollen wir den vielfältigen Funktionsstörungen in der Sorge begegnen, müssen wir die am Sorgegeschehen Beteiligten mehr fragen, wie der Weg zukünftig sein soll. Nur die Umsorgten können sagen, ob ihre Bedürfnisse erfüllt sind. Nur die Sorgenden können sagen, welche Rahmenbedingungen sie brauchen, um gut sorgen zu können. Gelingende Sorgebeziehungen brauchen daher nicht nur bessere Rahmenbedingungen für Sorgearbeit, sondern es ist ebenso wichtig, den direkten Einfluss auf die eigenen Sorgebeziehungen zu verbessern“, fordert Ursula Kremer-Preiß, Fachbereichsleiterin für Wohnen und Quartiersgestaltung sowie Autorin des Beitrags “Wohnen 6.0 – mehr Demokratie in der (institutionellen) Langzeitpflege”. Erst dadurch werde wirkliche Teilhabe möglich. Denn Teilhabe bedeute nicht nur, sozial eingebunden zu sein, sondern immer auch Mitentscheidungs-, Mitverantwortungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben zu haben. Der Beitrag „Wohnen 6.0“ versteht sich als „Think and to do Tank“ für mehr Eigenverantwortung, aber auch mehr Mitentscheidung der Umsorgten und der Sorgenden in Pflegewohnsettings. Es wird im Buch u. a. aufgezeigt, wie Sorgeparlamente in Pflegewohnsettings arbeiten, wie das Konzept der „Unterstützten Entscheidungsfindung“ für eine Demokratisierung der Langzeitpflege fruchtbar eingesetzt werden kann, wie zivilgesellschaftliche Akteure aus dem Sozialraum als Advokaten demokratische Entscheidungsteilhabe sichern können, welche Chancen eine Demokratisierung der Arbeitsstrukturen bietet, um dem Pflexit zu begegnen. 

Wohnen 6.0 bewegt sich in der KDA-Tradition, die Heimversorgung bedarfsgerecht weiterzudenken. Mit den 1. bis 5. Heimgenerationen hat das KDA hierfür in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Impulse gesetzt. Das hier zur Diskussion gestellte Leitbild Wohnen 6.0 ist jedoch keine 6. Heimgeneration. „Eine konsequente Demokratisierung stellt den Sorgenden Gemeinschaften anheim, selbst zu entscheiden, wie professionell oder selbstorganisiert sie ihr Pflegewohnsetting gestalten wollen. Es geht darum, sektorenübergreifend Pflegewohnangebote so weiterzuentwickeln, dass sie den Bedarfen der Langzeitpflegebedürftigen, die dort wohnen, und den Mitarbeitenden, die dort arbeiten, entsprechen“, meint Fachbereichsleiterin Ursula Kremer-Preiß. In Pflegewohnsettings, die den Bedarfen aller entsprechen sollen, kann die jeweils gewünschte Balance von Freiheit und Sicherheit nicht top down von Profis verordnet werden, sondern sie muss von allen gemeinsam demokratisch ausgehandelt werden. 

„Demokratie ist keine Frage eines zweckmäßigen Kosten-Nutzenkalküls“, betont Helmut Kneppe und erinnert an Willy Brandts Mahnung „Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.“ Es muss Aufgabe der Gesellschaft sein, den Verhinderungsstrukturen von Entscheidungsteilhabe bei Pflegebedarf etwas entgegenzusetzen. Wohnen 6.0 will dazu einen Beitrag leisten. 

Das Buch als PDF: KDA_Wohnen_6.0 

Podcast Prof. Stefan Görres, Integrierter Gesundheitscampus Bremen, mit Ursula Kremer-Preiß zum Thema

Podcast Zukunft der Pflege von Contec mit Ursula Kremer-Preiß zum Thema 

 


Es zeichnet das KDA aus, dass es in den letzten 60 Jahren nicht nur die jeweiligen Herausforderungen in Bezug auf alte Menschen in unserer Gesellschaft benannt hat, sondern auch in konkreten Vorhaben gezeigt hat, wie diesen zu begegnen ist. Vor dem Hintergrund aktueller Diskurse erscheinen dabei für die Zukunft zwei Aspekte besonders bedeutsam.
Wer sich heute um alte Menschen kümmert ist immer gleichzeitig mit sozialen und gesundheitlichen Fragestellungen konfrontiert. Die Menschen sortieren ihre Anliegen nicht nach den Sozialgesetzbüchern. Ziel muss es sein, dass geschilderte Probleme dort landen, wo sie aufgegriffen werden können. Deshalb ist es notwendig, auf örtlicher Ebene Strukturen zu schaffen, die das Zusammenwirken zwischen den Akteuren der Altenhilfe und des Gesundheitswesens sichern.  Praktische Beispiele dafür gibt es. Verwiesen sei zum Beispiel auf das Wiesbadener Netzwerk für geriatrische Rehabilitation.

Pflegestützpunkte
Auch andere Gebietskörperschaften schaffen systematisch Strukturen, in denen Akteure der Altenhilfe und des Gesundheitswesens kontinuierlich und strukturiert zusammenarbeiten. Die gesetzlichen Vorschriften des SGB 12 legen den Schluss nahe, dass diese beschriebenen Aufgaben den Pflegestützpunkten zugewiesen sind. Zu Fragen ist aber, ob die personellen und sächlichen Ausstattungen ausreichen, um in Verbindung mit den örtlichen Strukturen der Altenhilfe und des Gesundheitswesens entsprechende Kooperationsplattformen zu schaffen.Die gesetzlichen Vorschriften zu den Pflegestützpunkten weisen auf einen weiteren beachtenswerten Aspekt hin: hierbei geht es in erster Linie um die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Sozialgesetzbüchern. Die Vorschriften der häuslichen Krankenpflege im SGB 5 mit ihren einzelnen Standards in der Leistungserbringung bestimmen von Anfang an mit, wie die Ausgestaltung der ambulanten Pflege nach den Vorschriften des SGB 11 zu erfolgen hat. Zudem erfolgen im Kontext der Pflegebedarfserhebung nach den Vorschriften des SGB 11 Festlegungen, die auf die Leistungsgewährung nach den Vorschriften des SGB 12 Einfluss nehmen. Gleiches gilt sicherlich für die aktuellen Vorschriften zum Entlassmanagement aus dem Krankenhaus. Eine wesentliche Herausforderung für die an der Entlassung Beteiligten im Krankenhaus besteht darin, für Hilfs- und Pflegebedürftige Personen die jeweils aktuelle örtliche Versorgungsstruktur in die entsprechenden Prozesse zu integrieren.

Wechselwirkung
Diese wenigen Beispiele mögen darauf hinweisen, wie bedeutsam bei einzelnen Reformen in den jeweiligen Sozialgesetzbüchern die Wechselwirkung zu anderen Teilen der Sozialgesetzgebung sind. Dies gilt insbesondere für die Sozialgesetzbücher Teil 5, Teil 9, Teil 11 und Teil 12.
Für das KDA folgt daraus, bei künftigen Reformdiskussionen noch stärker auf die Wechselwirkung innerhalb der gesamten Sozialgesetzgebung zu achten. Die Grundlagen hierfür sind gelegt. (Siehe dazu u.a.: Klie, Ranft, Szepan: Strukturreform Pflege und Teilhabe 2021).
Beiden Herausforderungen – Kooperationen zwischen Altenhilfe und Gesundheitswesen entwickeln und notwendige Entwicklungen in den Sozialgesetzbüchern mitbestimmen – kann das KDA in seinen vielfältigen Projekten und Vorhaben begegnen. Beispielhaft sei auf das Vorhaben Wohnen 6.0 verwiesen.


„Wenn der Mensch nicht darüber nachdenkt, was in ferner Zukunft liegt, wird er das schon in naher Zukunft bereuen“.

So einfach und logisch – mit den Worten von Konfuzius – lässt sich die Motivation für diesen Beitrag zusammenfassen.Wenn es nur so einfach wäre! Tatsächlich ist die Zukunft nicht nur schwer fassbar, sondern auch ein Begriff, der mindestens so viel Skepsis hervorruft wie er Neugier auslöst.Von dem bekannten bayerischen Kabarettisten und Autor Karl Valentin stammt das berühmte Verdikt, dass Prognosen schwierig seien, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Auch andere Menschen äußern sich skeptisch, wenn sie sagen, der sicherste Zeitpunkt für eine Prognose sei nach dem Ergebnis.Als ich dies schrieb, fiel mir der Artikel des Zukunftsexperten Peter Felixberger in die Hände. Er kann uns dabei helfen, ein Gefühl für das Leben in 40 Jahren zu bekommen. Dazu hat er zu einem wirksamen Trick gegriffen und sich selbst als mit dann fast 100 Jahren Lebensalter in das Jahr 2060 „gebeamt“.In seinem „Rückblick aus dem Jahr 2060“ berichtet Felixberger, wie seine Frau (98) und er als „Lebensplan-Berater“ junge Menschen beraten: „Wir sagen ihnen, worauf es im Job ankommt. Darüber hinaus beraten wir auch ältere Menschen, wie sie ab 60 weiter einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen können. Bezahlt werden wir direkt vom Bundesarbeitsministerium, Abteilung „Lebensplanung“. Früher hieß das alles Rente. Den Begriff kennen nur noch die wenigsten.”Im Jahr 2030 sei das Rentensystem in Deutschland zusammengebrochen. Der Politiker Meyerling sei mit der Mitteilung in die Geschichte eingegangen: „Daher sehen wir uns gezwungen, das zu tun, was vorhergehende Politikergenerationen sich nie getraut haben: Wir schaffen die Rente ab!”Natürlich sei der Rentenkollaps ein einschneidendes gesellschaftliches Ereignis gewesen. Er erinnere sich noch gut an die Massendemonstrationen in den Großstädten gegen Sozialabbau und an die Hysterie in elektronischen Zeitungen, Internet-Blogs und sozialen Netzen. “Dennoch ging gleichzeitig auch ein Ruck durch das Land. Die Alten mussten sich wieder stärker selbst organisieren, ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Und sich gegenseitig unterstützen. Da half es natürlich, dass Beratungsberufe schon in den Jahren zuvor zur wichtigsten Stütze in der Arbeitswelt geworden waren. Dort konnten die Alten ihr Erfahrungswissen einbringen.“

Blick in die Zukunft
Heute (2060) seien mehr als zehn Millionen der 26 Millionen Erwerbstätigen selbstständig.Felixberger beschreibt weiter, dass 2051 zum ersten Mal mehr Nichtdeutsche als Deutsche hier lebten. Diese Vielfalt habe die Lebensqualität in diesem Land sehr bereichert: Man könne afghanisch essen, chinesische Ärzte aufsuchen oder das neue Museum für zeitgenössische afrikanische Kunst besuchen.2045 habe „eine wirklich radikale Bildungsreform (..) den Fächerkanon an die gesellschaftliche und wirtschaftliche Wirklichkeit” angepasst. Was für ein Aufschrei konservativer Bildungspolitiker, als 2045 die Fächer Ästhetik, Design, Mode, Medien, Ernährung und Architektur aufgenommen und Mathematik sowie Latein abgeschafft wurden.Beflügelt durch die Entscheidung der Bundesregierung unter Kanzler Timo Hacker im Jahr 2041, ein Grundeinkommen für alle einzuführen, das von den Gewinnen staatlich geförderter Hoch-Technologiebranchen bezahlt wird, hätten seitdem viele Menschen ihre Lebensprioritäten geändert. Deutschland sei heute in Europa „Gesundheitsland Nummer eins“. Ein Drittel aller Erwerbstätigen habe in diesem Segment einen Job gefunden. Viele Pflegekräfte stammten aus Osteuropa und Nordafrika.Die Zahl der Deutschen sei bis heute rückläufig. Partner- und Kinderlosigkeit sind eine ganz normale Lebensform. In der Folge seien auch viele Städte kleiner geworden.Zum Schluss fragt Felixberger: „Was bleibt übrig?“ und er schreibt :„Gesundheitlich sind wir auf dem Damm, der Krebs kann uns wie gesagt nicht mehr dahinraffen. Unsere Kinder, Enkel und Urenkel schauen uns manchmal etwas verwundert an, wenn wir über Hippies, 68er, PC, Kassettenrekorder oder Neue Deutsche Welle reden. Die Pole sind nach wie vor nicht geschmolzen, die Jahreszeiten sind geblieben, der Wetterbericht ist immer noch Glücksache. Einzig mit holografischen Musikkonzerten können wir uns bis heute nicht anfreunden. Das ist in Hamburg in diesem Sommer der große Hit. Popkonzerte aus New York werden live auf dem Heiligengeistfeld auf überdimensionale Holografie-Megamonitore übertragen. Sound und Technik sind derart ausgefeilt, dass man sich wie am Originalschauplatz vorkommt. Verblüffend echt!Gewöhnt habe ich mich an die kleinen Selbstdiagnose-Geräte, mit denen man schnell eigene kleinere Krankheiten diagnostizieren kann. Gewöhnt habe ich mich auch an die Weine aus Schleswig-Holstein, die jetzt aufgrund des Klimawandels dort angebaut werden. Und weil es sein musste, auch an das Verbot benzinangetriebener Autos oder Flugzeuge. Gewöhnt habe ich mich überdies an Lebensmittel-Ersatzprodukte, die Fisch und Fleisch Aroma- und Konsistenz-gerecht nachempfunden sind.Kürzlich habe ich von meinem orangefarbenen Bonanza-Fahrrad geträumt, das ich als Kind aus der Vorstadt stolz durch die Straßen lenkte. Das war Mitte der 1960er Jahre. Am Tag vor diesem Traum war mir eine Werbeanzeige auf meiner neuen Multimedia-Brille aufgefallen (Werbeblätter aus Papier gibt es schon lange nicht mehr), die mir eine voll einklappbare, hypermoderne Version mit einem Material anbot, das auf Knopfdruck reagieren soll. Trotz Hightech musste ich schmunzeln, die Bedürfnisse sind über die Zeiten hinweg offenbar gleich geblieben. Hier eben als Kind seine nächste Umwelt zu erobern – zu Beginn einer langen, hoffentlich erfüllten Lebensreise zu sich selbst.“ 

Gesellschaft des langen Lebens
Wie dem auch sein wird, hier werden gesellschaftliche Herausforderungen deutlich, die wir heute anpacken müssen, wenn wir bis dahin Lösungen haben wollen: Einige Fakten stehen fest.Der demographische und soziale Wandel und seine erkennbaren mittel- und langfristigen Auswirkungen stellen unser Land, Städte und Gemeinden sowie soziale Dienstleister vor große Herausforderungen. Die Lebenserwartung steigt, die Geburtenrate sinkt: Innerhalb einer längerfristig eher rückläufigen Bevölkerungszahl verschiebt sich die Alterspyramide erheblich. Wir werden weniger, älter, bunter.  Um das Jahr 2035 wird Deutschland weltweit eines der Länder mit der ältesten Bevölkerung sein. Wir sprechen – resignierend – von einer alternden Gesellschaft, von einer „Vergreisung“ der Bevölkerung. Die Japaner dagegen sprechen optimistisch von einer „Gesellschaft des langen Lebens“.Ältere Menschen stellen auch keine „Lasten-Quoten“ dar – Alterslast, Rentenlast, Rentnerschwemme, Pflegelast. Sprache ist verräterisch, sie verrät unser Denken. Die Blickrichtung ist falsch und gefährlich, wenn über die Kosten verursachenden Alten diskutiert wird. Es wird höchste Zeit, dass Politik und Gesellschaft die älteren Menschen als Werte-Schaffende, als Verbraucher, als Gewinn betrachten.Die meisten älteren Menschen sind körperlich und geistig fit. Sie verfügen über Sachwissen und jahrzehntelange berufliche Erfahrung. Das sind Ressourcen, auf die wir nicht länger verzichten dürfen.Das Alter als Ressource in den Blick zu nehmen, ist im doppelten Wortsinn förderungswürdig: Bleiben ältere Menschen aktiv, wirkt sich das positiv aus und erhöht die Wahrscheinlichkeit, weiter zu altern, Pflegebedürftigkeit weiter hinaus zu schieben und sich zumindest länger selbst versorgen zu können.Außerdem gibt es nicht zu viel Ältere in Deutschland, sondern zu wenig Junge. Nicht die Zunahme der Lebenserwartung ist der entscheidende Grund für die starke demographische Alterung, sondern das Drama der ausgefallenen Generation. Die Eltern, die heute Kinder zur Welt bringen müssten, sind nie geboren worden. Und bei den Jahrgängen ab 1965 liegt zudem der Anteil der Kinderlosen bei einem Drittel. Deutschland braucht daher eine nachhaltige Familien- und Einwanderungspolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung.Die demographische Entwicklung – die bereits seit 30 Jahren bekannt ist und jetzt mit voller Wucht die Deutschen und die Politik erfasst – und der strukturelle Alterswandel werden viele Seiten des täglichen Lebens verändern, nicht nur die Höhe der Renten oder die Gesundheitsversorgung. Wir werden anders wohnen, anders reisen, anders arbeiten, anders essen. Schulen und Universitäten werden sich umstellen und noch mehr Angebote für Ältere anbieten müssen.Unternehmen werden dann ebenfalls „alt aussehen“ und dringend auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sein. Statt KITAS brauchen wir dann möglicherweise SENTAS = Seniorentagesstätten, statt Betriebskindergärten eher „Betriebspflegeheime“, zumindest jedoch Beratung in Sachen Pflege und vor allem flexiblere Arbeitszeitmodelle zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. 

Zusammenleben der Generationen in der Kommune
Es gilt, eine älter werdende Gesellschaft zu gestalten und die Altenhilfe nicht als „Einzelfallhilfe“ des Sozialamtes – das ist ein veraltetes Konzept -, sondern als gemeinwesenorientierte Aufgabe aller Beteiligten zu verstehen als Familienhilfe. Es geht nicht um die Zukunft des Alters allein, sondern um die Zukunft des Zusammenlebens der Generationen in den Kommunen.Wesentliche Ziele hierbei sind die gesellschaftliche Integration und Teilhabe älterer Menschen, ihre Familienbeziehungen und sozialen Netzwerke, das Wohnen im Alter und die Förderung der selbstständigen Lebensführung sowie die Versorgung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit.Die Menschen können umso länger selbstständig leben, je besser die sie umgebenden Bedingungen darauf eingestellt werden. Das gilt für Wohnung und Wohnumfeld, Einkaufen, Dienstleistungs- und Unterstützungsangebote oder die Nutzbarkeit des Öffentlichen Personennahverkehrs ebenso wie für die Entwicklung von Produkten unter dem Gesichtspunkt eines „Designs für alle”, also nutzbar für alle Menschen, unabhängig von Alter oder Behinderung.Leider sorgen politische Entscheidungen auch für gegenläufige Tendenzen. Dazu gehören die Ausdünnung des öffentlichen Nahverkehrs, die Konzentration des Einzelhandels auf der „grünen Wiese”, die Schließung von Dienstleistungseinrichtungen des täglichen Bedarfs wie Filialen von Geldinstituten oder der Post, aber auch der Verkauf kommunaler Wohnungsbestände und Anderes mehr. Die hierdurch entstehenden Defizite wirken sich negativ auf die Kommunen als Lebensraum aus.So eindeutig wie die Prognose der Demographen ist auch die Tatsache, dass vor diesem Hintergrund Eigeninitiative und Selbsthilfe der Bürger in Zukunft sehr viel stärker gefragt sein werden als früher. Ich glaube, dass wir uns in Deutschland allzu sehr daran gewöhnt haben, Verantwortung abzugeben in der scheinbaren Sicherheit, dass das staatlich garantierte Sozialsystem uns über die gesamte Lebenszeit halten oder auffangen wird, wenn wir in eine Schieflage geraten sollten. Doch schon lange sind sich alle Fachleute einig, dass die bestehenden Sozialsysteme die damit verbundenen Belastungen nicht werden tragen können.Generell ist also mit einem Rückzug der staatlich und halbstaatlich organisierten Verteilung zu rechnen, hin zu mehr Selbstverantwortung des Einzelnen. Angehörige, Freunde, Nachbarn – das persönliche Netzwerk wird für die Bewältigung des Alltags an Bedeutung gewinnen.Es gilt die Potenziale aller Generationen für gegenseitige Hilfe und Unterstützung zu nutzen. So könnte eine Universität ihre Mensa auch als Mittagstisch für Senioren des Stadtteils anbieten oder Altenheime können in Hausrestaurants die Schulverpflegung anbieten. Es gilt also, Leitbilder der geteilten Verantwortung zu entwickeln.Wir müssen allerdings gut aufpassen, dass Politik und Gesetzgeber nicht deshalb gerne auf diesen Zug aufspringen, um Kosten zu sparen und Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Wohnen allein genügt nicht. Wenn die flankierenden Maßnahmen fehlen, bedeutet für Menschen mit Pflegebedarf, mit Behinderung oder mit Demenz die Forderung nach Teilhabe am Leben und in der Gesellschaft Teilhabe an Armut und Isolation. Es gibt keine Selbstbestimmung ohne Fürsorge.Über alle psychologischen, gesundheitlichen Perspektiven hinaus ist aktiv sein, sich am Geschehen beteiligen, „etwas zum großen Zusammenhang des Kosmos beizutragen, unser kleines Universum mit Leben zu füllen, der Lebenssinn schlechthin“. Nur wer sich beteiligt, hat Bedeutung. Jeder von uns möchte etwas wert sein, gebraucht werden, etwas geben können, auch ein an Demenz erkrankter älterer Mensch. Ein Mensch, der keine Aufgabe mehr hat, gibt sich auf.In den Städten und Gemeinden sind die Konsequenzen der demographischen und sozialstrukturellen Entwicklungen am deutlichsten zu beobachten, denn hier werden die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen an Dienste und Einrichtungen konkret und offenkundig, werden Lösungen und Angebote unmittelbar erwartet.Hier sehe ich eine elementare Aufgabe der Kommunen, steuernd und korrigierend darauf einzuwirken, dass durch die ökonomische Eigen-Steuerungslogik, indem immer mehr privatwirtschaftliche Unternehmen soziale Dienstleistungen anbieten, keine Angebotslücken aufgrund mangelnder Kaufkraft entstehen.So könnte die Entwicklung von Infrastruktur, Wohnangeboten und sozialen Leistungen aufeinander abgestimmt und unter Einbeziehung der Akteure vor Ort integriert werden. Derartige innovative, gemeinwesenorientierte Konzepte sind ein herausragendes Qualitätsmerkmal der Angebote von Caritas, Diakonie und den anderen Wohlfahrtsorganisationen für die Zukunft.Auch für Kirchengemeinden sehe ich neue Möglichkeiten, sich als Teil einer „neuen, solidaritätsorientierten Bürgerbewegung“ (K. Dörner) zu verstehen, aus Bürgern Nachbarn zu machen und so dazu beizutragen, dass Kirche in den Lebensräumen und Lebenswelten der Menschen wirksamer und präsenter ist.Es gilt, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten nach der Prämisse: So wenig Unterstützung wie möglich, so viel Hilfe wie nötig. Das heißt, und das ist der Quantensprung in ein neues Denken und Handeln der Professionellen: Bisher habe ich, der Professionelle, Bürger als Angehörige oder als Ehrenamtliche ins Helfen einbezogen. Jetzt muss ich lernen, vom Anderen her zu denken: Bürger beziehen mich als Profi ins Helfen ein, beauftragen mich, nehmen mich in Dienst, als Dienstleister, als Dienenden.In diesem neuen Denken fragt der Professionelle auf Anfrage:„Was kann ich für Sie tun? Sehen Sie bitte unsere Angebote und wählen Sie aus unserem differenzierten Leistungskatalog das Passende für sich aus.“ Oder ganz im Sinne der Aussage im Evangelium: „Was willst du, dass ich dir tue.“(LK 18, 35-43)Das neue Denken ist also nicht mehr angebotsorientiert – der Bürger muss nehmen, was da ist – sondern personenzentriert, individuell, nachfrageorientiert. Nicht die Nachfrage folgt weiterhin dem Angebot, sondern das Angebot der Nachfrage. Denn der Bürger weiß doch selbst, was er will.Dieser Entwicklung werden auch die sozialpolitischen und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Strategien der sozialen Dienstleister Rechnung tragen müssen. Richten Sozialunternehmen ihre fachlichen Konzepte nicht an den Interessen der Bürger nach selbst bestimmter Teilhabe aus, sondern an gegenwärtigen Auslastungsinteressen oder anderen betriebswirtschaftlichen Indikatoren und halten an überholten Versorgungsstrukturen fest, dann entfernen sie sich von den Interessen der Nutzer und „produzieren“ sozusagen am Markt vorbei. Selbstbestimmte Teilhabe muss die leitende Norm sein.Damit Teilhabe im Sinne der Mitwirkung in der Gesellschaft und die Organisation des Lebens nach eigenem Plan gelingen können, ist es entscheidend, dass Teilhabe-Möglichkeiten eröffnet und Teilhabe-Erwartungen formuliert werden.Dazu gehört auch eine Antwort der Politik auf das zunehmende Problem der Altersarmut. Sinkende Alterseinkommen verstärken die Gefahr von Einsamkeit – eine besonders schlimme Form der Ausgrenzung.Gemeinwesen-Orientierung und mehr Eigenverantwortung bedeuten also nicht Abbau des Sozialstaates und Rückzug der Kommune aus der Verantwortung der sozialen Daseinsvorsorge, sondern meint ganz im Gegenteil Umbau unserer Kommunen hin zu „sozialen Städten“.Voraussetzung hierfür ist natürlich eine Ressourcen-Umverteilung von der Bundes- auf die regionale Ebene, eine Stärkung der Kommunen in ihren Kompetenzen hinsichtlich der sozialen Infrastruktur-Entwicklung bei gleichzeitiger fiskalischer Stärkung.Diese Renaissance des Subsidiaritätsprinzips bietet die Möglichkeit einer neuen Architektur sozialpolitischer und sozialrechtlicher Steuerung in der Pflege. Derzeit dominieren im Pflegesektor zentral steuernde nationale Institutionen, die die lokale Steuerungs-Fähigkeit und –Bereitschaft marginalisieren. Die Kommunen haben derzeit bei der Altenhilfe und Pflege zu wenig Einfluss auf die Veränderung infrastruktureller Fehlentwicklungen. Ohne eine neue Kompetenz- und Ressourcen-Verteilung wird die kommunale Handlungsebene nicht die Steuerungsmacht gewinnen, die zur Bewältigung der Herausforderungen des demographischen Wandels erforderlich ist. 

Eine neue Komposition: SONG
Wenn wir zukünftig eine unangemessene Versorgung verhindern wollen oder glauben, der Markt wird es schon richten, müssen wir jetzt offen und ehrlich die vorhandenen Probleme und die Zukunftsthemen ansprechen. Unsere kinderarme Gesellschaft und die einseitige Ökonomisierung von Gesellschaft und Politik, wo Finanzen und Geld das wichtigste sind und Soziales oft nur ein Kostenfaktor, führen heute schon offenbar zu fehlender sozialer Einstellung, zu mangelndem Engagement, zu mitmenschlichem Kompetenzverlust und zu Fehlinvestitionen.Und hier setzt das Netzwerk SONG an. SONG ist ein Begriff mit Klang. Und tatsächlich, jetzt ist die „Melodie“ fertig, sozusagen die „CD“: das Memorandum mit den wichtigsten Ergebnissen ist erstellt. Im Netzwerk „Soziales neu gestalten“ – SONG – ,dessen Mit-Initiator ich bin, haben sich bei Gründung Partner aus dem Bereich der Wohlfahrtspflege: CBT – Caritas Betriebsführungs- und Trägergesellschaft mbH in Köln, Bremer Heimstiftung, Evangelisches Johannes- werk e. V. Bielefeld und die Stiftung Liebenau (Meckenbeuren) zusammen mit der Bank für Sozialwirtschaft AG (Köln), dem KDA – Kuratorium Deutsche Altershilfe e.V. (Berlin) – und der Bertelsmann Stiftung (Gütersloh) intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie unser Gemeinwesen die mit dem demographischen Wandel einhergehenden gesellschaftliche Alterung künftig besser bewältigen kann. Eine im Netzwerkprojekt SONG durchgeführte Potenzialanalyse bestätigt: Neue, zukunftsweisende Wohn- und Assistenzangebote, die die vorherrschende Versorgungslogik revidieren, sind möglich. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass präventive Leistungen belohnt, Eigeninitiative und gegenseitige Hilfe gestärkt, neue Hilfe-Mix-Modelle realisiert und bürgerschaftliches Engagement integriert werden.Ein solches soziales Netz ermöglicht im Verbund mit bedarfsorientierten professionellen Pflegeleistungen ein lebenslanges Wohnen im Quartier. Ein qualifiziertes Sozial- und Quartier-Management sowie neue Kooperationsformen im Quartier sind dabei als notwendige infrastrukturelle Voraussetzungen maßgebliche Erfolgsfaktoren. 

Welfare-Mix-Analyse
Die Welfare-Mix-Analyse zeigt, dass in Quartier-Projekten Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen durch das Zusammenwirken von Staat, Markt und informellen sozialen Netzen erhalten und ausgebaut werden können. In Fallstudien wurde untersucht, wie durch die Vermittlung vielfältiger Interessenlagen soziale Beziehungsnetze geknüpft und kleinräumige Unterstützungspotenziale erhalten und entwickelt werden können. Dabei ist eine wichtige Bedingung für die solidarische Unterstützung von Hilfebedürftigen unübersehbar: Auch die Unterstützenden müssen von den Wohnmodellen profitieren können.Insgesamt zeichnet sich eine neue Kultur des Zusammenlebens ab, in der die Beteiligten jenseits der eigenen Handlungslogiken füreinander mitdenken. Das institutionelle Rückgrat des Miteinanders bildet die in den Wohnmodellen fest verankerte Gemeinwesenarbeit. Die Analyse einiger „Leuchtturm-Modelle“ zeigt, dass sich stabile Netzwerke entwickelt haben. 

Social-Return-on-Investment
Die im Projekt SONG erstmals nach dem SROI-Ansatz (Social-Return-on-Investment) durchgeführte sozio-ökonomische Mehrwert-Analyse weist unter anderem nach, dass (moderierte) gemeinschaftliche Aktivitäten von Bewohnern professionelle Unterstützungsleistungen zum Teil substituieren und dass die projektierten Modelleinrichtungen die Lebens- und Wohnqualität im Quartier verbessern können.Die SROI-Analyse belegt außerdem, dass der Hilfebedarf der Bewohner sinkt und sich damit auch die Unterstützungskosten vermindern.Die vorliegenden Befunde weisen nach, dass die Gesellschaft auf sehr vielfältige Weise von gemeinschaftlichen Wohnmodellen profitieren kann. Um solche Wohnmodelle realisieren zu können, müssen allerdings die für den gesellschaftlichen Mehrwert konstitutiven Investitionen getätigt werden.Im Vergleich zu herkömmlichen Wohn- und Betreuungsformen ergeben sich die folgen- den zentralen Analyse-Befunde:Ausgeprägtes soziales Zusammenleben und verbesserte Kommunikation im und       um das Modell.•   Intensivierter Austausch mit Nachbarn sowie Indizien für ein erhöhtes Engagement aller Quartier-Bewohner.•   Mehr Angebote und stärkere Inanspruchnahme von Nachbarschaftshilfe.Messbare Einspareffekte für Bürger und insbesondere für die öffentlichen Kostenträger.•   Positive Integrationseffekte für weitere Personengruppen (etwa Familien, Allein- erziehende oder sozial Benachteiligte).Mit dem Sozialraum vernetzte Wohnprojekte für alle Generationen in die öffentliche Regelfinanzierung aufzunehmen, ist daher wesentlich zielführender als weiterhin überwiegend auf stationäre Einrichtungen zu setzen und die Kostensteigerung der Sozialleistungen für Pflege zu beklagen. Die Fortschreibung bestehender Strukturen der stationären Altenhilfe ist weder finanzierbar noch von den Bürgern gewollt!

Wohnhäuser als Pflegeheime der Zukunft
Wir werden auch in Zukunft Pflegeheime benötigen, gerade für die wachsende Zahl an einer Demenz erkrankter Menschen. Denn Pflegeheime erfüllen trotz aller Kritik eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe und sind als Bestandteil der pflegerischen Versorgung unverzichtbar. Ohne diese Häuser würden mehr alte Menschen verwahrlosen, wahrscheinlich auch früher sterben und Angehörige in die Überforderung getrieben. Aber sie werden anders sein müssen: strukturiert in autarke Hausgemeinschaften. Wohnhäuser mit Pflege, stadtteilbezogene Kleeblatt-Systeme, die sich in Bau, Konzeption, Organisation und Führung den Bedürfnissen und Wünschen dieser Hauptzielgruppe anpassen müssen:Wohnhäuser also, in denen die Bewohnerin oder der Bewohner den Rhythmus des Tages je nach ihren Gewohnheiten bestimmen. Es ist schon heute möglich, Orte der Pflege zu schaffen, an denen die Charta der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen konkret umgesetzt und gelebt wird. 

Vernetzung im Wohnquartier
Um die soziale Betreuung und Pflege älterer Menschen in Zukunft leistbar, wirksam und finanzierbar zu erhalten, muss die Unterstützung jedoch weiter in die Wohnquartiere verlegt werden. Diese Entwicklung darf nicht konterkariert werden durch den Bau großer, mit dem Sozialraum nicht vernetzter, „Pflegebatterien“. Denn nur dort, wo Alt und Jung zusammenleben, lässt sich gegenseitige Hilfe in der Balance von Selbsthilfe und professionellen Angeboten organisieren. Familiäre Hilfe, Selbsthilfe und bürgerschaftliches Engagement unterstützen und ergänzen die Bereitstellung öffentlicher Daseinsvorsorge. 

Kleinräumige Strukturen und Alltagsorientierung
In diesem quartierbezogenen Kontext müssen sich zukunftsorientierte Pflegeheime baulich und konzeptionell noch stärker auf die beiden Hauptzielgruppen ausrichten: An einer Demenz Erkrankte und hochaltrige Menschen mit erhöhtem medizinisch-pflegerischen Bedarf.Bedarfsgerechtes Wohnen und Begleiten erfordert daher kleinräumige, dezentrale Strukturen und eine intelligente Architektur. Diese fördern Vertrauen und Sicherheit. Es erfordert eine Beteiligung an hauswirtschaftlichen Aktivitäten, denn dies fördert Alltagsorientierung und Normalität. Es erfordert individuelle Tagesstrukturierung, die auf die Förderung und Erhaltung von Selbstbestimmung und Selbstständigkeit abzielen. Es erfordert auch eine sorgfältige Auswahl, Einarbeitung und Fortbildung fachlich und menschlich geeigneter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erst damit wird Beziehungspflege im eigentlichen Sinne möglich.Und es erfordert die Beteiligung der Angehörigen und die Einbindung von Ehrenamtlichen und Bürgern, damit Gemeinwesen-Bezug und Partizipation gelingen. Die besten Voraussetzungen für Wohnen und Begleiten von Menschen mit Pflegebedarf oder mit Demenz bieten Hausgemeinschaften.

Autonomie und Selbstbestimmung als oberstes Prinzip
Es müsste Maxime aller Pflegeheime sein, dass jeder Bewohner ein eigenes Konto besitzt, auf das die Rente des Bewohners eingezahlt wird und zwar unabhängig vom Grad der Pflegebedürftigkeit. Zur Autonomie gehört, dass Jede und Jeder eine Rechnung über die erbrachten Leistungen bekommt. Auch bei einer Demenz-Erkrankung und der rechtlichen Betreuung wird dies beibehalten, denn so können auch Angehörige, Betreuer und Nachbarn in die Versorgung mit einbezogen werden.  

Alltagsnormalität durch multiprofessionelles Team
Hausgemeinschaften werden definiert als Wohn- und Lebensraum für 8 bis 12 Bewohner mit einer Wohnküche als zentralem Mittelpunkt und unmittelbar angrenzenden persönlichen Zimmern. Die Bewohner werden unterstützt und begleitet von einem multiprofessionellen Team, in dem die Professionellen aus den Bereichen Hauswirtschaft, Sozialpädagogik sowie Familienpflege die wesentlichen Rollen spielen und die erforderlichen Pflegemaßnahmen durch Pflegekräfte erbracht werden.Ehrenamtliche und Angehörige kommen gern in die Hausgemeinschaften und sind auf diese Weise aktiv eingebunden, auch weil den Angehörigen angeboten wird, im Rahmen des Vertrages, Regelleistungen abzuwählen, die der Träger ihnen vergütet.Das Grundprinzip ist normalisierte Lebensgestaltung in einem geschützten Rahmen und Alltag. Die Tagesgestaltung richtet sich nach den Wünschen, Bedürfnissen und Ressourcen der Bewohnerinnen und Bewohner. Eine dezentrale hauswirtschaftliche Versorgung ist von großer Bedeutung, wobei die Bewohnerinnen und Bewohner sich aktiv oder auch passiv an den Aktivitäten wie Kochen oder Waschen beteiligen können, um die Normalität des Alltagslebens aufrecht zu erhalten.Leitlinie dieses Konzeptes ist die einmalige und von Gott gegebene unverfügbare Würde jedes einzelnen Menschen. Sie werden mit ihren je eigenen biographischen, sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Hintergründen, mit ihren Ressourcen und ihren Defiziten, respektiert und akzeptiert.Und mit diesem Konzept kann die Lebenssituation der betroffenen Menschen spürbar verbessert werden.

Ressourcen-Förderung statt Ruhigstellung
In den überschaubaren, freundlich gestalteten Räumen der Hausgemeinschaften herrscht eine ruhige Atmosphäre. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verabreichen deutlich weniger Psychopharmaka und die Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich sicherer, sind gesünder und zufriedener, sind nicht allein und haben mehr Lebensfreude. Und die große Bewohnerzufriedenheit strahlt deutlich auf die Zufriedenheit der Mitarbeiter aus, die dadurch gute „Gastgeber“ sein können.Die Lust am Essen durch das Mit-Kochen oder die Gerüche in der Wohnküche regen den oft verloren gegangenen Appetit wieder an. Fixierungen werden überflüssig. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehen so täglich die Erfolge ihrer Arbeit und sind dadurch hoch motiviert. Das Loslassen von starren Ablaufstrukturen und Programmen und das Erkennen dessen, was die Bewohner wirklich brauchen, verhindert darüber hinaus eine Überfürsorge und Überversorgung. So werden Bewohnerinnen und Bewohner nicht in die „Schutzhaft der Nächstenliebe“ genommen. Vielmehr werden ihre vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten gefördert, was darüber hinaus auch zu einer spürbaren Arbeitsentlastung führt. 

Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit
In den kleinen, relativ autarken Wohngruppen wird Beziehung gepflegt und Beziehungspflege wirklich gelebt. Alte und pflegebedürftige Menschen sind und bleiben Persönlichkeiten, und Mitarbeitende gehen mit ihnen bedeutungsvolle Beziehungen ein.Eine solche Wertschätzung des pflegebedürftigen Menschen fördert einen gelingenden Alltag, in dem nicht mehr nur Krankheiten und Beeinträchtigungen, sondern Würde, Autonomie, Teilhabe, Normalität, Freude und Spiritualität im Mittelpunkt stehen. So können die drei berüchtigten „S“: „Still, Satt, und Sauber“ durch die drei „Z“: „Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit“ ersetzt werden.Pflegeheime müssen keine Orte der „verkürzten Sprache und des Verstummens“ oder gar „Wartezimmer zum Tode“ sein. Sie können zu Orten werden, die einen deutlichen Mehrwert an Lebensqualität ermöglichen und in denen Bewohnerinnen und Bewohner im Rahmen dieser Begleitung länger aktiv bleiben. Verborgene Fähigkeiten werden wiederentdeckt und vergessene Gewohnheiten wiederbelebt. Es geht darum, Bewohnerinnen und Bewohnern, denen aufgrund ihrer Erkrankung oder ihrer Pflegebedürftigkeit nichts mehr zugetraut wird, die Möglichkeit zur Teilhabe zurückzugeben und sie im Rahmen ihrer Möglichkeit und entsprechend ihrer Wünsche und Bedürfnisse selbst bestimmte Entscheidungen im alltagspraktischen Handeln treffen zu lassen. Das Zitat aus dem Brief einer Angehörigen trifft dieses Auffinden verschüttet geglaubter Fähigkeiten genau: „Meine Mutter saß immer im Eingangsbereich und wollte nur noch sterben. Seit sie in der Hausgemeinschaft ist, blüht sie richtig auf. Und vorige Woche sagte sie doch tatsächlich zu mir: ‚Kind, geh nach Hause, ich hab noch zu tun’“. 

Sterben, Tod und Abschied würdig gestalten
Ein wichtiges Thema in Pflegeheimen ist die Frage des Umgangs mit Sterben, Tod und Abschied. In jedem Pflegeheim sollte es  einen Ort geben, an dem ein so genanntes Buch des Lebens ausgelegt ist, in das jeder verstorbene Bewohner mit einem Foto und seiner Lebensgeschichte aufgenommen wird.Die Lebenden können so ein Gefühl dafür entwickeln, dass in „ihrem Haus“ niemand vergessen wird und dass auch sie am Ende ihrer Tage „bedacht“ bleiben. Mindestens einmal im Jahr finden Abschiedsgottesdienste statt, zu denen die Angehörigen eingeladen werden. Angehörige nehmen diese Einladungen gern an. Ihre Verbundenheit mit dem Pflegeheim wird gestärkt; auf diese Weise können auch zusätzliche ehrenamtliche Helferinnen und Helfer gewonnen werden.Die Hausgemeinschaften bieten die große Chance einer radikalen Bewusstseinsänderung dafür, stärker als in bisherigen Strukturen vom Bewohner aus zu denken und zu handeln, Pflegeheime weiterzuentwickeln und so ihren Stellenwert in der Gesellschaft zu vergrößern.

Werteorientiertes Management
Damit ein solcher Paradigmenwechsel in Pflegeheimen möglich wird, ist es die Aufgabe von Trägern und leitenden Mitarbeitern, entsprechende Rahmenbedingungen in einem Unternehmen zu schaffen.Organisationen sind nur so gut, wie die Menschen, die für sie arbeiten.Die Kundenbeziehung kann nicht besser sein als die Beziehung zwischen Management und Mitarbeiter. So wie man innen miteinander umgeht, wird man auch von außen wahrgenommen. Was Unternehmen bei Mitarbeitern falsch machen, können sie bei den Bewohnern nicht besser machen. Schlechte Arbeitgeber disqualifizieren sich auch als Anbieter für soziale Dienstleistungen.Deshalb benötigt gute, erfolgreiche Altenpflege Werte. Dies sind in erster Linie soziale und menschliche Spielregeln, die Anerkennung und Teilhabe ermöglichen und nicht ein Pflegeumfeld, das ausschließlich in medizinisch-technischen Details aufgeht. Einrichtungen der Pflege, die einen solchen Wechsel vollziehen, benötigen ein werteorientiertes Management, das die Frage nach dem Sinn, der Ethik des Betriebes, dessen Werten permanent in den Mittelpunkt stellt.Denn kostbarstes Vermögen eines Unternehmens sind nicht die Bankkonten oder die Gebäude, sondern die Menschen, die dort arbeiten; wichtigster Rohstoff ist die Bereitschaft zum Mitmachen. Und daher haben Träger und Hausleitungen zuerst in die Menschen zu investieren, die dort arbeiten, und nicht in Qualitätssiegel. Eine solche „Charta des Handelns“ in den Einrichtungen der Altenhilfe umzusetzen, würde dazu beitragen, menschenunwürdige Situationen in deutschen Pflegeheimen künftig nachhaltig zu verhindern. 

Selbstbestimmte Teilhabe als Leitnorm einer älter werdenden Gesellschaft
Die demographische Entwicklung wird die Altenhilfe gravierend verändern und sie zum Mittelpunkt der Gesellschaftspolitik machen.Es geht um einen Auftrag an unser Gemeinwesen, das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung sowie das Recht auf Teilhabe in allen Lebensphasen und Lebenslagen zu sichern. Hierzu gehört nicht nur, inklusive Strukturen zu schaffen und Menschen sozial einzubinden, sondern ihnen auch in allen Lebenslagen Mitentscheidung und Mitgestaltung zu ermöglichen. Um dies zu gewährleisten, fordert das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) eine Demokratisierung des Alter(n)s. Das KDA will mit der Initiative „Leben im Alter(n) 6.0“ den notwendigen gesellschaftspolitischen Diskurs anstoßen und die Rolle, Integration und Akzeptanz alternder Menschen in und für unsere Gesellschaft weiterentwickeln. . Nichts wird so bleiben, wie es bisher war. Die Frage, ob künftig noch Pflegeheime benötigt werden und wenn ja, wie sie aussehen müssen, kann nur vor dem Hintergrund des demographischen, sozialen und gesellschaftlichen Wandels und nicht isoliert beantwortet werden. Es gilt also, eine älter werdende Gesellschaft zu gestalten und die Altenhilfe nicht als Einzelfallhilfe, sondern als gemeinwesenorientierte Aufgabe aller Beteiligten zu verstehen. Selbstbestimmte Teilhabe muss die leitende Norm für diese Entwicklung sein.Die Lösung für die Pflege älterer Menschen kann demnach nicht darin bestehen, dass immer weitere Pflegeheime gebaut werden, die niemand will und für die es derzeit viel zu wenige Fachkräfte gibt. Die Vorstellungen, wie die Heimversorgung am besten zu gestalten ist, haben sich in den vergangenen Jahren verändert. In der Praxis bleiben die meisten Heimeinrichtungen jedoch trotz der Reformen weiterhin „Sonderwelten“, die in der Ausgestaltung von einem Träger bestimmt werden und damit der Selbstbestimmung der Bewohnerschaft und den Inklusionsemühungen Grenzen setzen. Immer wieder wird daher die Auflösung der Heime und eine Ambulantisierung von Voll-Versorgungsangeboten gefordert. Einrichtungsträger haben darauf reagiert und ihre Einrichtungen im Sinne von „Verbundmodellen“ ambulantisiert.Zugleich haben sie damit die Verantwortung für die Sicherstellung der Sorge an die Betroffenen abgegeben. Praxiserfahrungen und Studien geben jedoch Hinweise, dass die Betroffenen und Angehörigen teilweise überfordert sind, die Verantwortung für die Sorge-Leistungen tatsächlich alleine zu tragen.Hier setzten die Überlegung des KDA zu einem neuen Leitbild für Langezeit-Pflege-Wohnangebote an. In seiner Tradition immer wieder Impulse für die Weiterentwicklung der stationären Pflege (siehe 1.-5. Heimgeneration) zu geben, bringt das KDA das Konzept „Wohnen 6.0“ ein. Nach diesem Konzept sollen alle am Sorge-Geschehen Beteiligten nicht nur gemeinsam verantworten, sondern auch mehr gemeinsam entscheiden, wie das Leben und Arbeiten in Langzeit-Pflege-Wohn-Settings zu gestalten ist. Es geht um mehr Demokratie in der Heimversorgung wie das KDA betont und einfordert. Im Rahmen des Forschungsprojektes, das vom Deutschen Hilfswerk (DHW) gefördert und vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) bearbeitet wird, soll die Umsetzung von „Wohnen 6.0“ in ausgewählten Einrichtungen erprobt werden. Es gilt zudem ,die Hilfe zur Selbsthilfe der älteren Menschen zu fördern mit bezahlbaren haushaltsnahen Dienstleistungen, mit „Künstlicher Intelligenz“, mit Ambient Assisted Living-Konzepten, Systemen und Produkten sowie einem flächendeckenden Beratungsangebot, mit ambulanter pflegerischer Versorgung, einem Quartiermanagement oder der früheren „Gemeindeschwester”. Innovative und radikale Veränderungen sind notwendig, aber auch möglich, wie das Pflegemodell von Buurtzorg – übersetzt Nachbarschaftshilfe -, einem Start-Up Unternehmen aus den Niederlanden zeigt. Buurtzorg steht für ein ambulantes Pflegesystem, das den Patienten und Pflegebedürftigen ein eigenständiges Leben ermöglicht und ihre Selbstfürsorge aktiv fördert. Das Besondere ist aber auch, dass dieses System den Pflegenden ein hohes Maß an Eigenverantwortung überträgt. Wenn möglichst viele Ältere sich auf ihre Stärken besinnen, ihre Potenziale und Ressourcen einbringen können und ihr Sozialraum intakt bleibt, kann der Pflegenotstand gelindert, vielleicht sogar verhindert werden. Die oft gestellte Frage danach, wie wir selbst im Alter, auch bei Pflegebedürftigkeit oder Demenz, leben möchten, ist der Ausgangspunkt für das professionelle Bemühen, eine solche Strukturänderung herbeizuführen. Zudem ist gesellschaftlich eine Kultur des „Los-Lassens“ (neu) zu lernen, denn sie lenkt den Blick darauf, dass wir nichts wirklich festhalten können, weder die eigenen Kinder, noch den Beruf und auch nicht das eigene Leben.Doch als Christen können wir uns bewusst machen, dass Alter nicht nur Verlust und Schmerz bedeutet, sondern dann auch einen Gewinn, wenn wir uns in Gott geborgen fühlen und das Vertrauen auf ihn uns hellsichtiger und weitsichtiger macht. 

 


Der demografische Wandel stellt ein weltweit auftretendes Phänomen dar und sollte daher in seiner Ausgestaltung mit gemeinsamen Anstrengungen und einem grenzüberschreitenden Erfahrungsaustausch verknüpft sein. Die Vereinten Nationen fungieren hierbei als übergreifende Steuerungs- und Kontrollinstanz, die im Rahmen einer multinationalen Zusammenarbeit dringend gebraucht wird. Wie sich Deutschland in diesen internationalen Prozess einbringt und welche Akzente der Altenpolitik bislang gesetzt wurden, soll der folgende Beitrag näher beleuchten.

Die zurückliegenden Jahre der Pandemie wie auch der blutige Krieg in der Ukraine haben uns auf unmissverständliche Weise die wunden Punkte unseres Sozial-, Gesundheits- Wirtschafts- und Sicherheitssystems vor Augen geführt. Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels mit den damit einhergehenden Naturkatastrophen und Ressourcenverknappungen. In diesem Zusammenspiel werden die wachsenden Anforderungen an ohnehin belastete Bevölkerungsgruppen und Nationen offenkundig. Fatale Entwicklungen, die in Teilen dieser Welt ihren Anfang nehmen, finden ihren zerstörerischen Widerhall stets zugleich anderorts. Probleme und Konflikte enden damit nicht an Staatengrenzen. Durch komplexe Verkettungen lösen sie mitunter schwer kalkulierbare Dominoeffekte aus. Eskalationen zu vermeiden, Gesellschaften zu schützen und Bedrohungen zu antizipieren ist damit mehr denn je eine zentrale politische Aufgabe, die nicht allein von einzelnen Regierungen zu leisten ist, sondern starker Bündnisse bedarf. Eine solche Allianz ist durch die verschiedenen Organe der Vereinten Nationen angestrebt, die sich nach den verheerenden Traumata eines Weltkriegs seit 1945 explizit für die Wahrung von Frieden und Sicherheit, die Einhaltung von Menschenrechten sowie für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker einsetzen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist seit 1973 aktives Mitglied und wichtiger Partner dieser Staatengemeinschaft. Die beteiligten Länder erreichen indes über die Vorgehensweisen zur Erreichung der genannten Ziele nur selten vollständige Einigkeit. So konnten Völkerrechtsverstöße nicht grundlegend getilgt, aber doch zumindest vielfach geächtet und Wege zur diplomatischen Lösung angebahnt werden. Dies macht deutlich, wie wichtig die kontinuierliche Überprüfung der in der UN-Charta (A/RES/217 A III) formulierten Standards bleibt und wie zentral die Sanktionierung festgestellter Verstöße ausfällt – auch wenn diese nicht immer rechtzeitig zu dem erhofften Ergebnis führen. Gleichzeitig gilt es, verletzliche Personen und Gruppen frühzeitig zu identifizieren und durch entsprechende Vereinbarungen zu beschützen. Ferner sind all jene in die Pflicht zu nehmen, die solidarische Hilfe leisten können. Genau dies trifft für die Gruppe älterer Menschen zu. Zwar bilden Hochaltrige auf der einen Seite aufgrund zunehmender Risiken und zurückgehender Potenziale eine ausgesprochen vulnerable Gruppe, auf der anderen Seite verfügen Anteile der älteren Generation ebenso über zentrale Erfahrungen, Kompetenzen und Mittel, die sie gewinnbringend für das Gemeinwohl einsetzen können. Beide Seiten zu berücksichtigen ist Auftrag einer ausgewogenen Altenpolitik.

Erster zentraler Meilenstein
Mit dem 60-jährigen Jubiläum des KDA stellt sich bezogen auf die internationale Altenpolitik ein ebenfalls runder Geburtstag ein. Hier jährt sich nach 40 Jahren die erste maßgebliche altenpolitische Vereinbarung der Vereinten Nationen – verabschiedet durch die UN-Vollversammlung in Wien im Jahre 1982. Schon zuvor gab es vereinzelte Aktivitäten von UN-Abteilungen. Ein echter thematischer Durchbruch wurde allerdings erst im Zuge dieses als „Weltaltenplan“ (A/Conf.113/31) in die Geschichte eingegangenen Aktionsprogramms erzielt. Früher als in vielen der beteiligten Nationen selbst hat sich damit der Staatenbund mit den vielfältigen Folgen des demografischen Wandels im Sinne eines eigenständigen Politikfelds auseinandergesetzt und damit eine wesentliche Grundlage für die Ausgestaltung auch nationaler altenpolitischer Programme geschaffen. An der Deklaration beteiligt war die erste führende deutsche Gerontologin und ehemalige Bundesministerin Ursula Lehr, die bis zu ihrem Tod im April dieses Jahres auch dem KDA als Kuratorin eng verbunden war. Der Weltaltenplan umfasst auf rund 60 Seiten eine beachtliche Sammlung von Sachparagrafen. Das angeführte Spektrum von Themen verweist auf vielfältige Anforderungen, die auch heute noch unbestreitbar gültig sind. Allerdings kann von einem Aktionsplan – wie im Titel verheißungsvoll hervorgehoben (Vienna International Plan of Action on Aging) – nicht wirklich die Rede sein. Konkrete Umsetzungsvorschläge bleiben aus. Die Listung von Handlungsfeldern wirkt gerade angesichts der Informationsfülle unstrukturiert und vage. Dennoch hebt das Dokument das Alter der Gesellschaft als politisches Querschnittsthema erstmals wirkungsvoll hervor. Ein Ansatz, der auch die nationale Politik bis heute prägt.

Reanimation und erneute Impulsgebung
Bis in die 1990er Jahre hat es gedauert, bis die UN-Altenpolitik einen erneuten Aufschwung erfahren hat. Nach der Verabschiedung seniorenpolitischer Grundsätze im Sinne allgemeiner Grundrechte älterer Menschen (Resolution 46/91) wurde zusätzlich ein internationales Jahr der Senioren (A/RES/50/141) ausgerufen. Höhepunkt der Anstrengungen war dann der zweite Weltaltenplan (A/CONF.197/9), der 2002 in Madrid ratifiziert wurde. In diesem Dokument wird nun auch die Zivilgesellschaft als entscheidender Akteur identifiziert. Besonderes Augenmerk lenkt das Papier nunmehr auf die Verantwortung zwischen Industriestaaten, Schwellen- und Entwicklungsländern. Berücksichtigung finden auch die Migrationsbewegungen zwischen verschiedenen Staaten, die demografische Entwicklungen verschärfen oder abmildern. Gänzlich neu ist zudem der Ansatz, dieses Dokument in Form regionaler Implementierungsstrategien gezielt weiter zu verfolgen. Unter starkem Einsatz der damaligen Bundesregierung und den zuständigen Fachministerien hat sich Deutschland in diesen Prozess vorbildlich eingebracht. Das so entstandene UNECE-Dokument (ECE/AC.23/2002/2/Rev.6) konnte noch im selben Jahr in Berlin verabschiedet werden. Verständigt hat sich die dafür zuständige Wirtschaftskommission Europas unter Einbeziehung Nordamerikas und Teilen West- bzw. Zentralasiens auf einen ehrgeizigen Empfehlungskatalog mit insgesamt zehn relevanten Verpflichtungen, an denen sich die Mitgliedstaaten orientieren. Zwar sind auch diese Vereinbarungen ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit. Dennoch war damit eine deutlich bessere Überprüfbarkeit von altenpolitischen Maßnahmen in der ECE-Region beabsichtigt. Das ist eine bis dato nie dagewesene Verständigung, um dem altersbedingten Transformationsprozess international und vorausschauend zu begegnen. Ausgelöst wurde damit eine neue Aufbruchstimmung, die eine enge Kooperation auf Arbeitsebene zwischen den Landesministerien und Nichtregierungsorganisationen erwarten ließ. Große Hoffnungen waren daher mit dieser Erklärung verknüpft.

Zaghafte Weiterverfolgung
Mit der Implementierungsstrategie hat man klare Aufgabenpakete für die Folgezeit geschnürt und einzelne Arbeitsgruppen eingerichtet (z.B. UNECE-Working Group on Ageing; Titchfield City Group on Ageing). Vereinbart wurde zudem im Fünf-Jahres-Takt eine nationale Berichts- und internationale Konferenzpflicht, die Auskunft über den Umsetzungsstand der avisierten altenpolitischen Ziele geben sollte. Die Folgekonferenzen fanden in Leon, Wien, Lissabon und jüngst im Juni 2022 in Rom statt. Deutschland ist den Berichtvorgaben fortlaufend nachgekommen – zuletzt im September 2021 im Rahmen eines vierten Überprüfungs- und Bewertungszyklus. Nach mittlerweile 20 Jahren hätte man gerade von deutscher Seite die öffentlichkeitswirksame Benennung einer Vielzahl von Errungenschaften und Entwicklungsprozessen erwartet. Das ist leider nicht der Fall. Das entstandene Papier wirkt wie ein wenig ambitioniertes Pflichtenheft, das lediglich den Mindestvorgaben zu entsprechen versucht. Wie lässt sich dies trotz der jahrzehntelangen Vorbereitungen erklären? Zwar wird darauf hingewiesen, dass sich Bundesministerien, Landesregierungen und nachgeordnete Behörden in stetigem fachliche Austausch befinden und außerdem die kommunalen Spitzenverbände, Sozialpartner, Wirtschaft, Wissenschaft und Interessenvertretungen eingebunden sind – doch finden sich genau für diese Behauptung keine stichhaltigen Belege. Mehr noch: Gerade verschiedenen Ressortzuständigkeiten, föderale Strukturen und die unsystematische Nutzung von Fachexpertise aus Wissenschaft und Praxis sind Ursachen für die unzureichende Nutzung von Wissensbeständen. Entsprechend bleibt die von deutscher Seite vorgenommene Listung von Maßnahmen unvollständig und einseitig. Einmal mehr zeigt sich die begrenzt funktionierende Denk- und Handlungsweise in Legislaturperioden. Regierungswechsel und Wahlen sind mit regelmäßigen Kursänderungen und fehlender Stringenz der Vorhaben verbunden. Dies lässt echten Innovationswillen in der Altenpolitik vermissen, die ohnehin als wenig attraktives Politikfeld angesehen wird. Die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen beschränkt sich auf die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, die als weisungsgebundener Zuwendungsempfänger nicht unabhängig zu agieren vermag. Ein weiterer Trugschluss zeigt sich in einer gänzlich ausgebliebenen Fehlerkultur. Nur auf Erfolge zu verweisen, ohne zugleich Schwachstellen zu erkennen führt zur blinden Fortsetzung unzureichender Strategien. Von einer internationalen Zusammenarbeit kann überdies in der Altenpolitik nicht wirklich die Rede sein. Ein abgestimmtes multinationales Handeln ist derzeit nicht erkennbar.

Gebot des Handelns
Die Welt steht vor epochalen Herausforderungen, in denen die Alterung der Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt. Nur wenn es gelingt, die weitreichenden Veränderungen gemeinsam zu bearbeiten, bleiben wir zukunftsfähig. Wir täten gut daran, den internationalen Aktionsplan künftig wieder energischer zu verfolgen. Es bleiben uns keine weiteren 20 Jahre, um dies politisch glaubhaft zu verankern.

 


Sich als Festredner auf dieser Jubiläumsveranstaltung mit dem Lebensende zu befassen, mag befremdlich erscheinen. Diese Irritation verflüchtigt sich allerdings rasch, wenn man bedenkt, dass die Kommunikation in unserer Gesellschaft zu Fragen des Sterbens und des Todes zugenommen hat, wobei diese Kommunikation nicht selten mit einer gewissen Oberflächlichkeit oder Unverbindlichkeit verbunden ist, eine Art beredtes Schweigen. Das kann, wie einige sozialwissenschaftliche Befunde zu bedenken geben, mit einem hohen Grad der Versachlichung unserer Lebensformen zusammenhängen, die den Wunsch nach Sinnstiftung unbefriedigt lässt und ein Gefühl existenzieller Unsicherheit erzeugt. Dabei werden Wünsche eines selbstbestimmten und würdevollen Lebensendes immer wieder deutlich artikuliert. Allein die Vorstellungen von Sterben und Tod gehen heute weniger auf persönliche Erfahrungen zurück, sind vielmehr in hohem Maße medial vermittelt.

Dass Wünsche eines selbstbestimmten Lebensendes heute deutlicher artikuliert werden, überrascht keineswegs, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei vergleichsweise besserer Gesundheit im Alter nicht nur zugenommen hat. Es zeigen sich zudem bemerkenswerte Kohorteneffekte einer alternden Generation, die mehr und mehr seit den 1970er Jahre durch individualisierte Lebensstile mit vielgestaltigen Werteüberzeugungen charakterisiert ist. Es werden von der älteren Generation im historischen Vergleich vermehrt Ansprüche einer selbstbestimmten Lebensführung im Bewusstsein persönlicher Selbstverantwortung erhoben. Auch wenn es Hinweise dafür gibt, dass das Verhältnis der älteren und der jüngeren Generation im Sinne eines wechselseitigen Verantwortungsverhältnisses gestärkt worden ist, so darf doch nicht verschwiegen werden, dass teils konsumistisch überstrapazierte Lebensstile der nunmehr in den Ruhestand eingetretenen Generation für die nachwachsende Generation mit belastenden Folgen verbunden sind (Stichwort: „ökologischer Fußabdruck“).

Umso bedeutsamer erweist sich das Bewusstsein elementarer Strukturbedingungen menschlichen Lebens, welches auf Gegenseitigkeit beruht. Wir sind – und das zeichnet nicht allein unsere Spezies aus – auf Kooperation existenziell angewiesen. Aus diesem Grunde werden Ansprüche individueller Autonomie nicht in Gestalt einer bloßen Ich-Zentriertheit verabsolutiert werden dürfen. Im Übrigen weisen Befunde der Alternsforschung darauf hin, dass sich mit zunehmendem Alter das Bewusstsein sozialer Verbundenheit schärft. Die emotionale Bedeutsamkeit sozialer Beziehungen tritt immer stärker bei der Thematisierung eines selbstbestimmten Lebens in den Vordergrund, zumal in der reflektierten, vorausschauenden Auseinandersetzung mit der unwiderruflichen Begrenztheit des Lebens.

In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion spielen Fragen einer sinnvollen, das heißt persönlichen Vorstellungen und Wünschen gemäßen Gestaltung des Lebensendes eine immer bedeutendere Rolle – nicht zuletzt angeregt auch durch medizinethische Erwägungen. Unter dem Titel Advance Care Planning, im Deutschen als „Behandlung im Voraus planen“ bekannt, wurden Konzepte für eine selbstbestimmte Planung existenzieller Entscheidungen im Hinblick auf das Lebensende entwickelt. Dabei wird allerdings Selbstbestimmtheit am Lebensende als ein relationales Konzept verstanden; das heißt eingebettet in den jeweiligen sozialen Kontext einer Person, weil nur in diesem Kontext individuelle Wertüberzeugungen, Wünsche und Bedürfnisse in ihrer Sinnhaftigkeit verstanden werden können, aber auch als persönliche Gründe der Abwehr Ich-fremder Zumutungen oder Zudringlichkeiten. Die Bedeutung dieses Konzepts wird unterstrichen durch eine kontinuierlich steigende Zahl demenzieller Erkrankungen. Dabei handelt es sich freilich um Personen, denen auch in fortgeschrittenen Krankheitsphasen die Fähigkeit zu Willensbekundungen etwa im Rahmen eines mimisch-gestischen Artikulationsvermögens nicht gänzlich abgesprochen werden darf.

Auch wenn wir uns den eigenen Tod nicht vorstellen können, wie Sigmund Freud feststellte, so scheint der Wunsch, das Lebensende gestalten zu können, sehr stark mit tief verankerten menschlichen Bedürfnissen der Kontrolle eigener Lebensumstände ebenso wie der eigenen Physis zusammenzuhängen. Vor allem der Verlust einer lebensgeschichtlich erworbenen Fähigkeit der Selbstregulation des Individuums in einer Situation vollständigen Ausgeliefertseins wird als entwürdigend empfunden. Was hat es mit dieser Würde auf sich?

Sowohl in der Moralphilosophie als auch in der Rechtsphilosophie kann diese Frage nur schwer beantwortet werden. Gerade deswegen scheint mir ein philosophiegeschichtlicher Exkurs zu zwei wichtigen theoretischen Repräsentanten der Menschenwürde angezeigt, einerseits in der Frührenaissance, andererseits im Barockzeitalter. Es war zunächst Pico della Mirandola, der zum ersten Male in engem Zusammenhang mit der physisch-materiellen Dimension menschlichen Lebens, und unabhängig von christlichen Vorstellungen etwa einer Gottesebenbildlichkeit, den Anspruch von Menschenwürde begründete. Ihm zufolge zeichnet sich die Würde des Menschen durch seine Fähigkeit der Selbsthervorbringung und der Selbstvervollkommnung aus, die sich seiner Willensstärke verdankt. Wir haben es hier also mit einer Grundlegung von Fähigkeiten der Selbstbestimmung zu tun.

Anders sieht die Begründung von Menschenwürde bei Pufendorf aus, einem Vertreter der noch in christlicher Tradition verankerten Naturrechtslehre. Doch auch in seiner Grundlegung einer Dignitas sind physisch-materielle Einflüsse erkennbar. Für ihn besteht die sinnliche Grundlage der Würde des Menschen im „Gefühl der Selbstachtung“, dessen Verletzung vergleichbar ist mit einer Schädigung seines Körpers. Entscheidend ist das Gefühl, nicht wie „ein Hund“ behandelt zu werden, sondern als Mitmensch unter der Voraussetzung einer natürlichen Gleichheit. Die naturrechtliche Begründung der Menschenwürde bei Pufendorf besteht folgerichtig in einer Engführung mit einer ebenso in der Natur des Menschen liegenden Socialitas. Denn nur in Gemeinschaft kann der Mensch die in ihm angelegten Entwicklungspotenziale zur Entfaltung bringen. Würde besteht insofern darin, alle der eigenen Entwicklung dienenden Aktivitäten zugleich als eine der Gemeinschaft dienende Aufgabe zu betrachten.

Recht besehen, weist das Pufendorfsche Konzept der Würde eine strukturelle Verwandtschaft mit dem Anspruch einer Selbstbefähigung des Menschen auf. Ein menschenwürdiges Leben führen zu können heißt, Fähigkeiten zu entwickeln, die ein Leben in der Gemeinschaft ermöglichen und in dieser Weise eine Gemeinschaftsbezogenheit auch des Alterns garantieren ― und zwar unter Bedingungen, die ältere Menschen in die Lage versetzen, ein Gefühl der Selbstachtung auch in der letzten Lebensphase aufrechtzuerhalten.

Freilich wird man dieses Schlüsselkonzept der Selbstachtung auch als ein reziprokes, das heißt als ein wechselseitiges verstehen müssen. Das bedeutet, dass auch jene Personen, welche Fürsorge für ein menschenwürdiges Altern leisten, ihrerseits in ihrer Arbeit ein Gefühl der Selbstachtung entwickeln können, und zwar unter Bedingungen, unter denen ihre Arbeit als eine dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienende erlebt werden kann. Dafür müssen kulturelle und materielle Voraussetzungen geschaffen werden, die geeignet sind, jenen Personen, deren Sorgetätigkeiten der Aufrechterhaltung menschlicher Würde bis zum Lebensende dienen, die ihnen gebührende öffentliche Anerkennung zu sichern. Gemeint sind hier, wie sie unschwer erkennen können, vor allem die Pflegeberufe.

Die Wahrung menschlicher Würde auch und gerade am Lebensende war einer der stärksten Impulse bei der konzeptionellen und organisatorischen Entwicklung von End of Life Care; das heißt eines palliativen Versorgungsansatzes, der Menschen darin unterstützten soll, bei gleichzeitiger Dämpfung symptomatischer Beschwerden das unausweichliche Ende ihres Lebens emotional zu verarbeiten und sinnvoll zu gestalten. Diesem Ansatz laufen zwei immer noch zu beobachtende Trends entgegen: erstens eine kontinuierliche Medikalisierung der letzten Lebensphase, zweitens eine Institutionalisierung der Sterbebegleitung vor allem in Pflegeheimen, in denen versorgungsrechtliche und betriebswirtschaftliche Erwägungen häufig das Geschehen dominieren; und zwar zulasten der persönlichen Wünsche und Vorstellungen derer, die dort häufig aufgrund eines Mangels an Versorgungsalternativen ihr Leben beenden, wie der Vorsitzende des Kuratoriums, Herr Kneppe, kürzlich kritisch zu bedenken gab.

Es ist falsch, anzunehmen, dass Menschen im Alter unweigerlich einen geistig-seelischen Rückzug antreten, gewissermaßen als Vorwegnahme des eigenen Lebensendes. Auch in der letzten Lebensphase zeigen ältere Menschen Würde in der Weise einer steten Selbsthervorbringung, die allerdings eines sozialen Resonanzraumes bedarf. Deshalb ist der Forderung nach Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben bis zuletzt größtmögliche Beachtung zu schenken. Vor diesem Hintergrund stellt sich schließlich die Frage, welche Versäumnisse möglicherweise in unserem gesellschaftlichen Leben dazu führen, dass gerade ältere Menschen auffallend häufig willentlich Hand an sich legen – ein Akt, der die menschliche Fähigkeit der Selbstvervollkommnung in ein geradezu tragisches Licht rückt. Auch darüber muss unter Gesichtspunkten der Aufrechterhaltung menschlicher Würde gesprochen werden.

Meine Damen und Herren! In einem spektakulären Urteil hat das Bundesverfassungsgericht vor gut zwei Jahren mit zwei Leitsätzen zum selbstbestimmten Sterben eine Position markiert, mit der dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen ein nicht mehr zu übertrumpfender, sondern lediglich mit anderen Rechtsgütern auszubalancierender Stellenwert in unserer Grundrechtsordnung zugesprochen wird. Im Anschluss an dieses Urteil werden gegenwärtig meines Erachtens moralphilosophisch, aber auch politisch völlig offene Fragen der konkreten Verwirklichung von Rechtsansprüchen einer Person auf Hilfe bei der Selbsttötung heftig diskutiert. Der Deutsche Ethikrat hat in einer jüngsten Verlautbarung das Recht auf Inanspruchnahme von Hilfe bei der Selbsttötung bekräftigt, gleichzeitig aber in einer Stärkung der Suizidprävention eine wichtige Aufgabe gesamtgesellschaftlicher Verantwortung gesehen und diese eingefordert. Dabei werden aber Konzepte und Maßnahmen der Suizidprävention über einen in der Regel psychiatrischen, das heißt individualisierenden Ansatz hinausgehen müssen; zumal in der berechtigten Sorge, dass mit einer Psychiatrisierung, kurzum mit einer potenziellen Pathologisierung gleichzeitig die Tore für die Ausübung gesellschaftlichen Zwangs geöffnet werden.

Stattdessen sind kollektive Anstrengungen erforderlich, gesellschaftliche Lebensbedingungen und mit ihnen verbundene Partizipationsangebote zu schaffen, die es älteren und alten Personen erlauben, bis zuletzt ein sinnerfülltes Leben zu führen. Denn zu den überwiegenden Gründen des im Alter signifikant ansteigenden Risikos einer Selbsttötung zählt nicht allein ein möglicherweise katastrophales Anwachsen körperlicher Nöte (beispielsweise bei immer noch unzureichender medizinischer Schmerzdiagnostik im Alter), nicht allein ein Verlust materiell auskömmlicher Lebensbedingungen, sondern in besonderem Maße der Verlust lebenssinnstiftender Erfahrungen. Der französische Soziologe Durkheim hat eine der bedeutsamsten Ursachen der Zunahme von Selbsttötungen in Phänomenen sogenannter gesellschaftlicher Anomie gesehen; das heißt in einer Diskrepanz zwischen persönlichem Wertesystem und Erfahrungen der Erosion gesellschaftlich maßgebender Werte; eine Diskrepanz, die als Sinnverlust erlebt und daher der Tod als einziger Ausweg betrachtet wird.

Wenn ältere Menschen kaum etwas mehr fürchten als ihre letzte Lebenszeit entkräftet in einer ihnen letztlich fremden Umgebung verbringen zu müssen, so spricht das nicht per se gegen die Institution Pflegeheim, zumal Pflegeheime immer mehr hospizliche Aufgaben übernehmen. Diese Furcht ist vielmehr als ein Weckruf zu verstehen, vermehrt gesellschaftliche Anstrengungen darauf auszurichten, vertraute Lebensbedingungen, Lebensumwelten und soziale Infrastrukturen in der Weise zu gestalten, dass sie ein selbstbestimmtes und würdevolles Lebensende gestatten. Die gesellschaftliche Einhegung des Todes, mithin die Isolierung des Sterbenden ist ein strukturelles, pathogenes Resultat unserer modernen Zivilisation. Dagegen könnte die Integration des Sterbenden ins Leben, je nach persönlichem Wunsch, als ein Zeichen von Humanität, von praktizierter Würde verstanden werden.

Ich wünsche dem Kuratorium Deutsche Altershilfe für seine Arbeit weiterhin viel Erfolg und danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!